Oper Unterwegs
Der Jäger Gracchus
(Uraufführung)
Premiere: 27. Juni 2010
Weitere Vorstellungen: 28./ 29./ 30. Juni 2010 / 1. / 2. / 3. Juli 2010
Text: FRANZ KAFKA
Ton-Zuspielungen: OLGA NEUWIRTH
Konzept und Inszenierung: HELGA UTZ
Ausstattung: THOMAS UNTHAN
Alphorn: JULIANE BAUCKE / MARTIN ROOS / ANITA KUSTER / FABIO HAUFLER
Jäger Gracchus: MARTIN HEMMER
Bürgermeister von Riva: CHRISTOPH LESZCZYNSKI
Frau des Bürgermeisters: ULRIKE LEITHNER
Bootsführer: JAN KONIECZNY
Julia, Frau des Bootsführers: EVA SAKALOVA
Fremdenführerin: YOSHIE MARUOKA
Fremdenführer: BENJAMIN-LEW KLON
Gemse: SOPHIE BEHNKE
Frauen von Riva: MARESA SCHICK / SOPHIE BEHNKE / BRIGITTE ASCHENBRENNER / ANNE KAFFEEKANNE
Männer von Riva: CHRISTIAN GUTH / REINHARD MALZER / JOHANNES MALZER / MARTIN SIGMUND / MARCO TÖLZER
Kinder von Riva: FIONA ASCHENBRENNER / ANNA CONRAD / MARTINA DEOGAREVIC / RAFAELA KRAMER / FRANZISKA PICHLER / JOHANNA SEIPP / DANIEL SIGMUND / ELISABETH UTZ
In der Expedithalle der hundertjährigen Ankerbrotfabrik, in der einst täglich 100 Tonnen Brot verladen wurden, wird der Jäger Gracchus in Riva anlanden. Wo ist Riva? Riva, das Ufer, das ersehnte Land? Wird Riva das Ziel sein können dieser schrecklichen, schmerzenden, Jahrhunderte dauernden Irrfahrt?
Es sind Kafkas rätselhafte Worte, die dem Grauen einen unbestimmten Sog verleihen, weil wir uns durch ihn verstanden fühlen, ohne dass man es genau benennen könnte. Jeder fühlt sich von Kafka verstanden, aber an Kafka gleitet das Verständnis ab wie Regenwasser an Schwertlilienblättern. Der Jäger wird sich Riva entziehen, dem mehltauigen Frieden, dem kümmernden Dasein. Er wird sich entziehen auf geheimnisvolle Weise, er, der Fehlerhafte, der Ausgestoßene, der Hinausgeschleuderte. Sein Geheimnis versteht nur die Musik, die ihn mit sich nimmt, die er mit sich nimmt, die uns zurücklässt am Ufer, am Land, an einem Land, nach dem wir uns nie gesehnt haben.
Kafka schrieb an dem Stoff vor allem 1917. Max Brod veröffentlichte den «Jäger Gracchus» 1931, sieben Jahre nach Kafkas Tod, zusammen mit anderen Schriften aus dessen Nachlaß in «Beim Bau der chinesischen Mauer». Für die "Gracchus"-Erzählung stellte er verschiedene Fragmente, die er im «Oktavheft B» Kafkas fand, zusammen und erfand den Titel. Eine fremde Gestalt, deren Ankunft auf mystische Weise angekündigt wird, erscheint in Riva, einem ruhigen Fischerort; gebracht wurde er von einer schwarzen Barke. Der auf einer Bahre Getragene erscheint tot, doch es entspinnt sich ein Dialog mit dem Bürgermeister, in dem der Gezeichnete behauptet, er sei vor vielen Jahrhunderten als Jäger im Schwarzwald „aufgestellt“ worden und bei der Verfolgung einer Gemse abgestürzt und verblutet. Sein Todeskahn jedoch habe die Fahrt verfehlt, und seither befahre er alle Gewässer der Erde, immer auf der Suche nach dem Ziel. Kafka hatte interessanterweise immer wieder an dem Stoff gearbeitet und offensichtlich zu keiner endgültigen Lösung gefunden, sodass man, trotz der erzählerischen Geschlossenheit, wie bei den meisten Werken Kafkas, von einem Fragment sprechen muss. Viele Bezüge sind offensichtlich, dennoch gelingt Kafka eine meisterhafte Verrätselung, besonders durch den berühmten poetischen Schlusssatz des Jägers: »Ich bin hier, mehr weiß ich nicht, mehr kann ich nicht tun. Mein Kahn ist ohne Steuer, er fährt mit dem Wind, der in den untersten Regionen des Todes bläst.«
Die These unserer Aufführung ist: solange man fragt, ist man nicht tot. Seltsamerweise wirkt der Tote auf der Bahre, der schmutzig ist und seit Jahrhunderten in seiner Koje modert, lebendiger als der ganze Ort Riva, vielleicht, weil es so „bekümmernd“ zugeht. In Riva wird hingenommen, nichts gewusst, nicht gefragt, hier wird existiert, nicht gelebt. Der Jäger jedoch findet trotz der entsetzlichsten Umstände die Kraft, sich nicht abzufinden, er fragt, er will wissen, er will die Zusammenhänge verstehen, er hat ein Ziel.
Olga Neuwirth erhielt für diese Aufführung einen Kompositionsauftrag.